Historisches: Der Reformfriedhof
Die monumentale bürgerliche Grabmalkultur der Gründerzeit reichte noch ins 20. Jahrhundert hinein, allerdings mehrten sich fortan unter „ästhetisch und demokratisch denkenden Menschen“ die kritischen Stimmen: Man sah in den prunkvollen Grabstellen einen nunmehr als aufgeblasen und neureich empfundenen bürgerlichen Bestattungspomp, der unüberbrückbare Grenzen zwischen Arm und Reich zog. Denn im Vergleich zu den privilegiert an den Hauptachsen der Friedhöfen gelegenen pompösen großbürgerlichen Grabstätten fehlten bei den Gräbern der Armen sowohl Grabzeichen als auch Grabpflege.
Durch das erstmals auf dem 1907 neu angelegten Waldfriedhof in München verwirklichte Konzept des Reformfriedhofes sollten die sozialen Unterschiede auf dem Friedhof nivelliert werden. Das Ziel, dass alle Menschen auf dem Friedhof gleich sein sollten, setzten die Friedhofsreformer mittels strenger Friedhofsordnungen durch, die neben der Größe der Grabmale auch deren Material und Bearbeitungsarten vorschrieben.
Friedhof und Grab wurden nun „in jenes technokratische Konzept integriert, das sich seit dem Kaiserreich ausgeprägt hatte“ und wurden damit Teil der systematischen „Normierung und Bürokratisierung der städtischen Daseinsvorsorge“ (Sörries 2009a s.u.). Resultat dieses Prozesses war das zentimetergenau normierte Standardgrabmal, das nach 1918 das Erscheinungsbild der modernen Begräbnisplätze bestimmt. Damit wurde das einst gefeierte bürgerliche Individuum zum beliebig formbaren Objekt degradiert und die Individualität der Grabstätte der systematisch geordneten Homogenität des Gräberfeldes geopfert.
Die eindeutigsten Auswirkungen der Grabmalreform ließen sich bei der Feuerbestattung beobachten: Nachdem die ersten Urnenbestattungen nach Einführung der Feuerbestattung – nach antikem Vorbild – überirdisch entweder in Kolumbarien oder auf der Grabstelle erfolgten, ging man nunmehr zur Platz sparenden unterirdischen Aschenbeisetzung über. Hier zeigen sich neben der ‚Standardisierung‘ und ‚Serialisierung‘ – für die die Aschengrabstellen seit den 1920er-Jahren zum Musterbeispiel wurden – auch Aspekte der Miniaturisierung.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Konzept der Friedhofsreform dankbar aufgegriffen – schließlich passte die Idee von der Gleichheit aller Menschen im Tod in die nationalsozialistische Ideologie der Volksgemeinschaft. Durch die rechtliche Gleichstellung der Feuerbestattung mit der Erdbestattung wurde dies noch weiter vertieft. Neben ideologischen Gründen – man bezog sich dabei auf die Feuerbestattung bei den Germanen – spielten auch ökonomische Argumente eine Rolle: Durch kleine, standardisierte Grabstätten, die wenig Pflegeaufwand erfordern, sollen Bestattung und Friedhof effizienter und ökonomischer gehandhabt werden.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Prinzipien der Friedhofsreform sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland richtungsweisend für die Friedhofsentwicklung: In der DDR sollte durch den überwiegenden Verzicht auf individualistische Grabkultur die „Gleichheit der Volksgenossen“ im Tode unterstrichen werden – gleichzeitig verfolgte man das Ziel, den Einsatz volkswirtschaftlicher Ressourcen auf dem Friedhof zu minimieren. Die Urnen-Gemeinschaftsanlage war die logische Konsequenz – unter diesem Namen entstanden großflächige, meist rasenbegrünte Beisetzungsflächen ohne individuelle Grabstätten. Diese galten als Errungenschaft sozialistischer Bestattungskultur und wurden seit den 1960er-Jahren zum festen Bestandteil der Friedhöfe.
Dieser Text wurde der Bachelorarbeit von Sven Friedrich Cordes „’Ich will ja niemandem zur Last fallen!’ Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Ökonomisierung im Bestattungswesen“ (Leibniz Universität Hannover, 2012) entnommen. Für Rückfragen und Anmerkungen zu diesem Artikel nutzen Sie bitte das Kontaktformular.
Quelle: Sven Friedrich Cordes, 2012, „Ich will ja niemandem zur Last fallen“, München, GRIN Verlag GmbH. Textvorschau bei Google Books.
Literaturverzeichnis:
- Fischer, Norbert 1997: Wie wir unter die Erde kommen. Sterben und Tod zwischen Trauer und Technik. Fischer, Frankfurt am Main.
- Fischer, Norbert 2008: Schauplatz Krematorium, in: Klie, Thomas (Hrsg.): Performanzen des Todes. Kohlhammer, Stuttgart, S. 44–57.
- Sörries, Reiner 2009a: Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs. Butzon & Becker, Kevelaer.